Friday, July 20, 2012

Kunst im Anatomiesaal – Leonardo da Vinci als Anatom

Heutzutage muss jeder Biologiestudent einen Tier-Sezierkurs belegen, bei Medizinstudentenist das Sezieren von menschlichen Leichen mehrere Semester lang ein Pflichtprogramm und sogar der interessierte Laie kann seine Anatomiekenntnisse mittels diverser US‐amerikanischer Fernsehserien à la Grey's Anatomy oder dank Gunther von Hagens Wanderausstellung Körperwelten auch ‚hautnah‘vertiefen. Mit dieser 1995 zum ersten Mal gezeigten Ausstellung menschlicher Plastinate scheint die Jahrhunderte alte Scheu vor dem toten menschlichen Körper verloren und eines der letzten Tabus gebrochen zu sein.

Auf der Suche nach dem in der Natur vermuteten Goldenen Schnitt konnte rund 500 Jahre zuvor auch ein anderer Wissenschaftler vor der Humansektion nicht haltmachen. Für den 1452 geborenen Leonardo da Vinci gab es kaum eine Disziplin, die ihn nicht interessierte. Er befasste sich nicht nur mit Mathematik, Geometrie, Botanik, Geologie und Astronomie, sondern vor allem anderen studierte er auch die Anatomie. Seine Beobachtungen undGedanken ergänzte er durch detaillierte Zeichnungen. Rund 7000 dieser Notizbuchseiten sind erhalten geblieben. Sein intensives Naturstudium, seine akribischen Aufzeichnungen und seine analytische Begabung machten ihn zu einem Pionier auf dem Gebiet der modernen wissenschaftlichen Illustration.


Leonardo da Vinci, Recto: Die oberflächliche Anatomie der Schulter-und des Nackenbereichs. Verso: Die Schultermuskeln, um 1510-1511.
Feder und Tinte über schwarzer Kreide, 29,2 x 19,8 cm.
The Royal Collection.



Leonardo da Vinci, Das Herz-Kreislauf-System und die wichtigsten Organe einer Frau, um 1509-1510.
Schwarze und rote Kreide, Tinte, gelbe Lasur,
46,7 x 33,2 cm gestochen.
The Royal Collection.


Während die Humansektion wie schon Jahrhunderte zuvor auch noch zu Lebzeiten da Vincis als religiöser Tabubruch galt, zerlegte dieser unter schwierigsten Umständen nicht nur tierische, sondern auch menschliche Relikte in ihre Einzelheiten und studierte den Aufbau des Körpers ‚Stück für Stück‘. Durch dieses andauernde Studium und seine große künstlerische Begabung erreichten seine Skizzen eine wissenschaftliche Genauigkeit, die dem direkten Vergleich mit von Hagens menschlichen Plastinaten durchaus standhalten kann. Leonardo da Vinci war ohne Frage talentiert, aber ohne seinen unstillbaren Wissensdurst und sein obligatorisches Notizbuch wäre er nie zu dem genialen Universalgelehrten par exellence und einem der bedeutendsten Künstler der Renaissance geworden.

Welch anderer Künstler hat sich schon freiwillig nachts auf Friedhöfen herumgetrieben und Leichen gesucht, um diese zu sezieren? Den Plan, seine Beobachtungen und Skizzen in einer Abhandlung über Anatomie zu veröffentlichen, konnte er nicht mehr in die Tat umsetzen. Mit seinem Tod im Jahre 1519 hinterließ er eine außergewöhnliche Anzahl an Aufzeichnungen, die heute zu den größten Schätzen der Royal Collection gehören. Eine Auswahl dieser Kostbarkeiten wird noch bis zum 07. Oktober 2012 in der Ausstellung Leonardo da Vinci: Anatomist in der Queens Gallery im Buckingham Palace gezeigt. Es ist die bisher größte Ausstellung, die ausschließlich da Vincis‘ Studien des menschlichen Körpersgewidmet ist.

Aber natürlich hat da Vinci weit mehr zu bieten als anatomische Skizzen. Einen umfangreichen und immer wieder nachlesbaren Einblick in das Leben und Werk des Künstlers erlangen Sie in digitaler oder gedruckter Formmit den Büchern des Parkstone-Verlages: Leonardo da Vinci: Künstler, Denker und Wissenschaftler oder Leonardo da Vinci.

-C. Schmidt

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